Oft bin ich ganz alleine, wenn ich meine Fototouren mache. Meistens komme ich schon morgens, dann ist noch niemand unterwegs. Im Frühjahr treffe ich auf Gärtner, die Blumen pflanzen  und im Sommer mähen sie den Rasen. Ansonsten sehe ich keinen Menschen weit und breit. Trotzdem muss schon jemand vor mir da gewesen sein, denn auf mancher Grabstelle brennt bereits eine Kerze. Die Toten selbst sind verborgen, sie ruhen unter der Erde. Ihre Reste liegen im Sarg oder wurden zu Asche verbrannt. Der Gedanke daran schreckt mich nicht. Weder an die Asche noch an die Körper, die mehr oder weniger stark verwest sind. Ich bin mir sicher, dass sich ihre Seelen rechtzeitig von ihnen gelöst haben. Ja, vermutlich erleben wir genau diesen Akt zum Zeitpunkt des Todes. Wer jemals einem Sterbenden im Augenblick seines letzten Atemzuges die Hand gehalten hat, hat vielleicht Merkwürdiges dabei beobachtet. Mir passierte es so und ich bin fest davon überzeugt erlebt zu haben, wie eine Seele den Körper verließ. Ein Erlebnis, das mir heute dabei hilft, meine Angst vor dem eigenen Tod auszuhalten.

Wenn ich morgens im Ohlsdorfer Friedhofspark unterwegs bin, gehen mir meistens nicht so tiefsinnige Gedanken durch den Kopf. Stattdessen schaue ich aufmerksam in alle Richtungen, denn es ist gut möglich, dass ein Reh plötzlich ganz in der Nähe steht und genauso verdutzt reagiere, wie ich selbst. Vielleicht huscht ein Marder an einem Baum hoch oder ein Uhu beobachtet mich aus seinem Versteck hoch oben auf einer kräftigen Astgabelung. Das möchte ich nicht verpassen und deshalb bin ich hellwach. Dabei geschieht es dann gar nicht selten, dass ich einer Täuschung zum Opfer falle. Dummerweise stets derselben aufs Neue. Dann stellt sich nämlich heraus, dass der Schatten im Gebüsch gar kein Reh war, sondern bestenfalls eine Reh-Figur. Die merkwürdige Silhouette hinter den dichten Zweigen erweist sich beim Näherkommen als Umriss eines Engel-Flügels und so mancher Schreck fuhr mir in die Glieder, als ganz unverhofft ein finster dreinblickender Mann lebensgroß vor mir auftauchte. Ja, das war tatsächlich der Tod, aber auch er war nur aus kalter Bronze gegossen. Und als ich mit leicht beschleunigten Schritt weiterging, da glaubte ich von dem Alten ein leises, dunkles Stöhnen zu hören. Aber das kann natürlich gar nicht sein, das ist ja ganz unmöglich. Oder?