Jetzt ist schon bald Mitte März und es ist noch immer unangenehm kalt. Ich bin vormittags unterwegs und trage noch immer Handschuhe. Fotografen brauchen agile Zeigefinger, sonst klappt das Auslösen nicht. Zum Glück laufen mir die Motive hier nicht weg. Als ich noch im Duvenstedter Brook unterwegs war und hauptsächlich Hirsche, Füchse und Seeadler fotografiert hatte, war das anders. Da kam es auf die Sekunde an. Heute könnte es mit der Sonne klappen, wenn die Wolken sich weiter auflösen. Ich glaube, seit Monaten hatten wir (fast) immer trübe Tage. Das hält niemand durch, die Vitamin-D Speicher sind leer und die Lebensfreude versickert unaufhaltsam. Also muss aufgetankt werden und ich hoffe heute die ersten blühenden Pflanzen zu finden. Und tatsächlich finde ich einen einzigen blühenden Busch, gleich an der Cordesallee.

 

Eine Kornelkirsche. Sie ist ein ausgesprochener Frühblüher und wird später rote Früchte tragen. Sie sind essbar.

 

Sobald man den Friedhof durch den Haupteingang am Bahnhof Ohlsdorf betreten hat, sieht man auch schon eine Statue vor sich auf der Wiese stehen. Aus der Ferne kann man schon sehen, dass es sich um zwei Figuren handelt; eine davon offensichtlich ein Engel. Es lohnt sich näher heranzugehen, denn die beiden sind ganz unterschiedlicher Natur und ausdrucksstark gearbeitet. Es handelt sich um den Propheten und Genius. Die Figuren wurden von Prof. Gerhard Marcks geschaffen. Er schenkte sie der Stadt Hamburg, die sie dann im November 1972 an dieser prominenten Stelle aufstellte. Den in Berlin geborenen Marcks verband eigentlich wenig mit Hamburg, außer seine Berufung an die Landeskunstschule gleich nach Kriegsende. Er scheint gute Erinnerungen gehabt zu haben, sonst hätte er das Geschenk nicht gemacht. Wir können uns darüber freuen, denn die Figur ist beeindruckend. Dem betagten, gebrechliche Propheten, sieht man geradezu die zittrigen Beine an. Es fällt ihm schwer, aufrecht zu stehen. Es fehlt die Kraft und Rücken ist längst krumm geworden. Aber da kommt der junge Genius, fast tänzelnd, auf den Alten zu und bietet ihm seine offenen Arme an. „Stütze dich auf mich, Alter, ich führe dich“, scheint er ihm zu sagen.

 

 

Der Genius wirkt hier als Schutzengel. Er umarmt den greisen Propheten, gibt ihm die Wärme zurück, die schon lange aus dem ausgemergelten Körper gewichen ist. Während der Alte niedergedrückt wirkt, scheint Genius emotional ganz unbeeindruckt zu sein. Er urteilt nicht nach menschlichen Ermessen, kennt kein Jung oder Alt. Er grübelt nicht über die Zukunft, denn er lebt stets in der Gegenwart.

Erst später erfuhr ich, dass der Künstler sich den Propheten als einen blinden Menschen gedacht hatte. Ein interessanter Aspekt. Der kluge Mann, der in die Zukunft schaut, kann die Gegenwart nicht sehen. Auch deshalb braucht er die Hilfe des Jünglings. Irgendwann hatte ich einmal ein Plakat an der Wand über meinem Arbeitsplatz hängen, darauf der Sinnspruch: ‚Jugend hat Kraft, Alter hat Genius.‘ Das fällt mir jetzt wieder ein. Gemeinsam bilden sie ein starkes Team. Allerdings sollten sie nicht auf Dauer zusammenbleiben, sondern ihre Treffen als einen besonderen Moment zelebrieren. Ich glaube, es könnte sich lohnen.

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Gerhard Marcks war ein Bildhauer und Grafiker. Er wurde 1889 in Berlin geboren und starb im Alter von 92 Jahren in der Eifel. Anfangs erschuf er farbig glasierte Tierplastiken. Immer arbeitete er auch als Kunstlehrer, u.a. im Bauhaus in Weimar. Er unternahm Studienreisen nach Paris und Rom und zeigte sich immer wieder bereit, in Deutschland neue Orte zu suchen, an denen er lehren und arbeiten konnte. Seine Karriere fand ein herbes Ende in der Zeit der Nationalsozialisten. Man stufte seine Werke als ‚entartete Kunst‘ ein und erhielt er ein Ausstellungsverbot. Nach dem Krieg nahm er eine Anstellung an der Hamburger Landeskunstschule an, arbeitete gleichzeitig aber auch in Köln. Sicherlich war es ihm eine besondere Ehre, dass er die Rückseite der Goldmedaillen 1972 gestalten durfte. Damals fand die Olympiade in München statt. Auch da wählte er ein Männerpaar als Motiv, nämlich die Brüder Kastor und Polydeukes. Sie sind die Schutzpatrone für Kampfspiele und Freundschaft.