Vor einigen Tagen fand ich eine Einladung im elektronischen Briefkasten. Man lud mich zu einem Spaziergang im ‚Friedpark‘ ein. Gemeinsam wollte man die Landschaft auf dem Ohlsdorfer Friedhof erkunden und, bei hoffentlich schönen Wetter, zusammen singen. Unter anderem stand ‚Geh aus mein Herz‘ auf der Wunschliste. Nun ja, dachte ich mir, das ist bestimmt nett gemeint, aber irgendwie nicht so ganz mein Ding. Womöglich werden alle fünfzehn Strophen abgesungen und das zwischen den Gräbern des Friedhofs. Und warum versucht der Absenderin, mit Gewalt Bedeutung in die eigenen Sätze zu zwingen, indem sie so nette Namen wie ‚Parkfriedhof Ohlsdorf‘ zu einem ‚Friedpark‘ verkorkst? Hoffentlich singen sie den original Liedertext und reimen sich nicht selbst etwas zusammen. Der hat nämlich einiges zu bieten, beispielsweise in der vierten Strophe von ‚Geh aus …‘, bei der ich mich immer frage, was der schnelle Hirsch tatsächlich mit dem leichten Reh im Sinn hat? Aber urteilen Sie selbst:

Die Glucke führt ihr Völklein aus,
der Storch baut und bewohnt sein Haus,
das Schwälblein speist die Jungen,
der schnelle Hirsch, das leichte Reh
ist froh und kommt aus seiner Höh
ins tiefe Gras gesprungen.

Tri, tra, trallala. Dann doch lieber alleine zwischen den Gräbern spazieren gehen, ohne Gesang. Besonders wenn das Wetter so traumhaft schön ist, wie an dem Sonntag, als ich diese Fotos machte. Schon seit einiger Zeit war mir am großen Teich eine Baustelle aufgefallen. Gleich an der Mittelallee hatten Arbeiter einen Zaun errichtet. Dahinter eine kleine Baugrube, einen Sandhügel, Holz und weiteres Material. Nicht ungewöhnlich, allerdings an dieser Stelle schon. Weit und breit ist hier kein Haus oder sonst etwas, das möglicherweise eine Reparatur brauchte. An diesem Sonntagmorgen war der Zaun weg. Man hatte alles fertiggestellt, die Baustelle beendet. Dafür stand dort jetzt etwas Weißes, was vorher noch nicht vorhanden war. Vielleicht eine Gedenkstätte? Oder ein kleines Haus? Neugierig geworden, ging ich einfach mal näher heran.

Keine Frage, es war ein kleines Gebäude, sehr moderne Architektur. An markanter Stelle, gleich an der Hauptstraße, wo sehr viele Leute vorbeikommen. Sie alle blieben stehen, schauten in Richtung des Häuschens. Ich lief erst einmal außen herum. Mal sehen, wie das Ding von hinten aussieht. Und dabei merkte ich schnell, dass es weder Türen noch Fenster gibt. Dafür zwei offene Eingänge, kein Dach, aber irgendwie doch alles sehr diskret. Niemand kann von außen hineinsehen. Ist das womöglich ein Toilettenhaus? Nein, das kann nicht sein, dafür ist es dann doch zu aufwendig gemacht und vor allem hätte der Baum wenig Sinn, der ganz offensichtlich innerhalb des Gebäudes steht. Auch wenn alle anderen Besucher Abstand hielten und darauf warteten, was ich machen würde, war meine Neugierde groß genug. Einer musste den Anfang machen, warum nicht ich? Aber vorher schaute ich erst einmal über die Mauer. Vielleicht lässt sich dahinter etwas erkennen?

Ja, es lässt sich. Der Baum steht tatsächlich innerhalb des Gebäudes. Und das ganze Gebilde hat offensichtlich kein Dach. Dafür aber einen Holzboden, der ohne Frage den Eindruck eines Innen-Raumes erweckt. Als ich dann endlich hineingehe und mittendrin stehe, sehe ich sofort, dass die weiß gestrichenen Wände bereits mit Graffiti bedeckt sind. Wer macht denn so etwas? Und dann auch noch auf dem Friedhof. Aber meine Empörung war ein wenig übereifrig. Denn schon fiel mein Blick auf das einzige ‚Möbelstück‘, dass in diesem luftigen Zimmer zu finden ist. Zwei schmale Wandregale. Darauf etliche Stifte und bunte Kreide. Keine Frage, das Bemalen der Wände war Teil des Projekts.

 

 

Gerne hätte ich auch eine Botschaft hinterlassen, aber so spontan fiel mir nicht das Richtige ein. Dafür habe ich mir aber genau die Bilder und letzten Grüße angesehen, die andere dort bereits an die Wand gemalt hatten. Das Haus oder genauer gesagt die Gedenkstätte war erst wenige Tage alt und doch hatten schon viele die Gelegenheit genutzt. Das zeigt, dass die Idee der ‚Trauerhaltestelle‘ gezündet hat. Mir gefällt es, auch wenn der Name zunächst sperrig klingt. Ein Architekturwettbewerb, mit dem Thema ‚Trauer braucht Raum‘, wurde für dieses Projekt ausgeschrieben. Und weil das Haus direkt an der Straße steht, ist die Analogie zur Bushaltestelle sinnvoll. Dieser kleine Raum bietet dem Besucher viel. Man fühlt sich geschützt, vor fremden Blicken abgeschirmt und ist doch unter freien Himmel. Man kann seine Gedanken mitteilen, man kann ein Bild malen oder sich durch Farbe ausdrücken. Der Besucher kann eine Botschaft hinterlassen oder seinem momentanen Gefühl Ausdruck geben. Niemand muss seine Trauer mit nach Hause nehmen. Hier ist Gelegenheit, sie abzulegen, sie zu teilen. Und wer hier steht, merkt schnell, dass er nicht alleine ist, denn auch andere waren in dieser Trauerhaltestelle und haben ihre Gedanken niedergeschrieben. Eine gute Sache, eine Bereicherung für den Friedhof.

 

 

Auf der Informationstafel steht geschrieben:

Diese Trauerhaltestelle ist ein öffentlicher Ort und für alle Besucherinnen und Besucher des Friedhofs zugänglich. Gleichzeitig schützt und schirmt sie einzelne Besucherinnen und Besucher in ihrer Trauer und ihrem Gedenken ab. Die Trauerhaltestelle gibt der Trauer keine Richtung vor. Jede und jeder kann eintreten und ist dabei zu nichts verpflichtet.

Im Inneren haben sie die Möglichkeit, mit Kreide persönliche Botschaften zu hinterlassen. Sie können persönliche Gegenstände und Blumen ablegen – oder ganz einfach einen Moment innehalten und in Erinnerungen und Gedanken verweilen.

Die Trauerhaltestelle ist ein Angebot für Menschen aller Religionen, Kulturen und Weltanschauungen. Sie kann bei jedem Besuch auf ganz unterschiedliche Weise erlebt und erfahren werden – und verkörpert damit die Möglichkeit einer neuen und zeitgemäßen Trauer- und Gedenkkultur.