Es gibt eine überlebensgroße Figur auf dem Ohlsdorfer Friedhof, die wohl jeden in den Bann zieht. Mein erster Eindruck war Verstörung. Eher Schmerz als Trauer, so deutlich fühlbar, dass man wegsehen möchte und es doch nicht kann. Die Figur steht an der Waldstraße, nahe der Kapelle Nr. 7. Sie ist direkt vor dem Mausoleum Schröder aufgestellt und ich denke, dass das nicht der ursprünglich zugedachte Platz war.

Was sehe ich in dieser Figur? Eine Frau, vielleicht eine Kriegerin, schleift zwei Personen an den Haaren haltend, hinter sich her. Mit der rechten Hand hält sie eine junge Frau und ihre linke Hand hat den Schopf eines Jünglings gepackt. Die Opfer sind vielleicht noch am Leben, aber zu sehr geschwächt, um noch Widerstand leisten zu können. Ja, selbst ihre Schreie scheinen mir verstummt zu sein. Was für eine grausame Szene wird uns da gezeigt?

 

 

Ich lese nach, dass die Figur lange in einem privaten Garten an der Außenalster stand. Der Künstler, der sie geschaffen hatte, war Hugo Lederer, er fertigte die Arbeit im Jahre 1905 an. Ein Jahr später feierte der aus Österreich-Ungarn stammende Künstler seinen größten Erfolg in Hamburg. Sein Entwurf des kolossalen Bismarck Denkmals war realisiert worden und wurde im Sommer 1906 feierlich eingeweiht. Lederer war erst 34 Jahre alt und stand noch am Anfang seines Lebenswerkes, als er die Plastik schuf, die den Namen „Das Schicksal“ trägt.

Ich kenne mich in der Kunstwelt wenig aus, glaube aber, dass die Figur nicht durch handwerkliche Finesse beeindruckt. Es ist das Motiv selbst, das Fragen aufwirft. Und es ist das Gesicht der Akteurin, das mich erst einmal schaudern lässt. Mir wird hier gezeigt, dass das Schicksal unerbittlich jeden am Schlafittchen zu fassen bekommt und dorthin schleift, wo er hingehört. Mit Bitten und Betteln wird man bei ihr nichts erreichen. Möglicherweise hätte man aber ihrem Griff entgehen können, wenn man sich rechtzeitig aus eigener Kraft auf den Weg gemacht hätte? Aber wohin? Welches Ziel muss ich erreichen, um dem mir geschenkten Leben gerecht zu werden?

Wirklich erschaudern lässt mich der Gesichtsausdruck der Frau, die das Schicksal darstellt. Die in die Ferne gerichteten Augen und der geschlossene Mund. Sie ist ohne Frage hellwach, hoch konzentriert, aber eben nicht auf mich. Sie sieht durch mich hindurch, selbst wenn ich mich direkt vor ihr hinstelle. Auch hier, denke ich, ist es Lederer handwerklich eher nur ordentlich gelungen, aber die schreckliche, in Stein gemeißelte Botschaft, hat er genial zum Ausdruck gebracht. Dieses Gesicht zeigt das Gegenteil von Liebe und das ist nicht etwa der Hass, wie viele Menschen meinen. Nein, es ist die totale Gleichgültigkeit an dem Anderen. Wenn das emotionale Band gerissen ist, dann nimmt man die Gefühle des Menschen nicht mehr wahr. Weder dessen Schmerz noch seine Angst oder Hoffnung. Je mehr ich mich mit dieser Figur beschäftige, desto mehr hoffe ich darauf, dass der Tod gnädiger sein möge. Und ich bin da eigentlich ganz zuversichtlich.

 

 

PS: Sich eine solche Skulptur in den Garten zu stellen, ist schon ziemlich abenteuerlich. Aber man darf es nicht mit heutigen Maßstäben messen. Damals lebte man im sogenannten Wilhelminische Zeitalter und das zeichnete sich u.a. mit ‚handfesten‘ Methoden in der Kindererziehung aus. Da kann ich mir gut vorstellen, dass man die Figur im Garten gerne nutzte, um dem Nachwuchs klarzumachen, was geschehen wird, wenn sie sich nicht bedingungslos unterordnen wollen. Aber das ist jetzt reine Spekulation und auch ein klein wenig eigene Erfahrung.